BGH: Patient bekommt Recht
Immer mehr Beschlüsse des Bundesgerichtshofs (BGH) verwerfen einseitig herstellerfreundliche Urteile von Landgerichten und Oberlandesgerichten. In einem Fall war das LG Tübingen und dann auch das OLG Stuttgart der Meinung, dass der Patient seine explantierte Prothese vorlegen müsse. Könne er dies nicht, müsse seine Klage nach Auffassung des Gerichts abgewiesen werden. Denn ohne Vorlegen der explantierten Prothese könne ein Konstruktionsfehler nicht nachgewiesen werden. Weitere Prüfungen auf Fehlerhaftigkeit erübrigten sich dann. Nach § 3 ProduktHaftG gibt es drei mögliche Ansätze für eine Fehlerhaftigkeit eines Produkts:
- Konstruktionsfehler
- Fabrikationsfehler
- Instruktionsfehler
Jeder einzelne dieser Punkte kann zur Feststellung der Fehlerhaftigkeit des Produkts führen und ist unabhängig von den übrigen zu prüfen. Dies haben LG Tübingen als auch OLG Stuttgart ignoriert. Deshalb zu Recht der Beschluss des BGH zu Gunsten des klagenden Patienten.
Dass das Krankenhaus eine Beweismittelsicherungspflicht trifft und die Prothese dort aus unerklärlichen Gründen „verschollen“, war, interessierte das Gericht nicht. Auf ein Mitverschulden des Krankenhauses einzugehen, sahen die Gerichte als nicht erforderlich an. Auch dies zu unrecht, wie der BGH feststellte.
In einem weiteren Beschluss des BGH ging es um die Substanziierung des Vortrags der Klägerin vor Gericht. Sie hatte trotz nicht wesentlich erhöhter Chrom- und Kobaltwerte im Blut vorgetragen, dass ihre Schmerzen auf das Vorliegen einer Metallose und weiterer Gesundheitsschäden hinweisen würden. Sie verwies auf Erfahrungen und Entscheidungen anderer Gerichte sowie auf die Aussagen ihres behandelnden Arztes. Das LG als auch das OLG München waren der Meinung, dass die Klägerin ihre Beschwerden nicht substanziiert vorgetragen habe und lehnten die Klage deshalb ab.
Zu Unrecht, sagte der BGH. Denn der Vortrag der Klägerin könne nicht deshalb abgewiesen werden, weil sie ihre Beschwerden nicht medizinisch überzeugend vorgetragen habe. Man könne von der Klägerin nicht erwarten, ein Medizinstudium zu absolvieren, um ihren Standpunkt medizinisch überzeugend vortragen zu können. Es sei Aufgabe des Gerichts, die notwendigen Informationen und Experten zur Klärung herbeizuziehen.
Das BGH Urteil vom 16.02.2021
Unter Punkt 2 schreibt der BGH:
„Mit diesen Ausführungen hat das Oberlandesgericht offenkundig unrichtig überhöhte Anforderungen an die Substantiierungspflicht der Klägerin gestellt und damit deren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.“
Damit wird höchstrichterlich festgestellt, dass nicht allein der Nachweis erhöhter Chrom- und Kobaltionenwerte im Blut entscheidend ist, sondern es sehr wohl auch auf die medizinischen Befunde wie Metallosen, Pseudotumore, Nekrosen etc. ankommt.
Bei medizinischen Geräten wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren sind die Anforderungen an ihre Sicherheit, die die Patienten zu erwarten berechtigt sind, in Anbetracht ihrer Funktion und der Situation besonderer Verletzlichkeit der diese Geräte nutzenden Patienten besonders hoch.
40 Außerdem besteht, wie der Generalanwalt in Nr. 30 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der potenzielle Mangel an Sicherheit, der die Haftung des Herstellers nach der Richtlinie 85/374 auslöst, bei Produkten wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden in der anormalen Potenzialität eines Personenschadens, der durch sie verursacht werden kann.
41 Daher können im Fall der Feststellung eines potenziellen Fehlers solcher Produkte derselben Produktgruppe oder Produktionsserie alle Produkte dieser Gruppe oder Serie als fehlerhaft eingestuft werden, ohne dass ein Fehler des betreffenden Produkts nachgewiesen zu werden braucht.
42 Diese Auslegung steht darüber hinaus im Einklang mit den vom Unionsgesetzgeber verfolgten Zielen, die insbesondere, wie sich aus den Erwägungsgründen 2 und 7 der Richtlinie 85/374 ergibt, darin bestehen, eine gerechte Verteilung der mit der modernen technischen Produktion verbundenen Risiken zwischen dem Geschädigten und dem Hersteller zu gewährleisten.
43 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Produkt, das zu einer Gruppe oder Produktionsserie von Produkten wie Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren gehört, bei denen ein potenzieller Fehler festgestellt wurde, als fehlerhaft eingestuft werden kann, ohne dass der Fehler bei diesem Produkt festgestellt zu werden braucht.
Damit werden von fehlerhaften Medizinprodukten Betroffenen weiterreichende Möglichkeiten eingeräumt, gegen den Hersteller erfolgreich vor Gericht zu ziehen. Denn das EUGH-Urteil besagt, dass wenn die Fehlerhaftigkeit eines Exemplars einer Serie desselben Modells als fehlerhaft festgestellt wurde, dies auf alle anderen Exemplare übertragbar ist. Der Hersteller haftet somit für alle Schäden, die durch dieses Modell verursacht wurden und werden, und zwar unabhängig ob er den Fehler verschuldet hat (Quelle).
Da der EUGH einen Fall mit Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren entschied, die bei Versagen den sicheren Tod des Patienten mit sich bringt, hat der EUGH besondere Anforderungen an die zu erwartende Sicherheit des Produkts gestellt. Ob diese erhöhten Sicherheitserwartungen auch an andere Medizinprodukte der höchsten Risikoklasse generell übertragbar sind, wurde bisher von Gerichten verneint. So ist es bisher nicht gelungen, die Fehlerhaftigkeit einer Durom-Metasul-LDH-Hüftprothese der Firma Zimmer für alle Modelle feststellen zu lassen. Das Gericht stellte fest, dass durch das Versagen einer Hüftprothese nicht der unmittelbare Tod des Patienten drohe wie dies bei Herzschrittmachern der Fall sein. Dass durch die Freisetzung der krebserregende Chrom- und Kobaltionen das Leben der Betroffenen stark verkürzt werden kann, ließ das Gericht außer Acht.
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